![]() Mein Vater, Max, war damals Vormundschaftspräsident im Dorf. Er stand dem Waisenamt vor, eine Behörde, die gestrandeten Menschen mit Beistand unterstützen. In dieser Eigenschaft musste er (man merke das Wort muss) oft auch Gestrandete auflesen (wieder so ein Wort, auflesen). Vor allem in der Vorweihnachtszeit häuften sich solche Episoden. November und Dezember waren ungastliche Monate, nass und kalt, neblig und trüb, mit Emotionen beladen, die bestimmend auch auf die Gemütsverfassung von Strandgut wirken. Strandgut, ein hartes Wort für Menschen die alles, vor allem Familie und Freunde, auf dem Weg zum Strand, aus der entgegengesetzten Richtung kommend jedoch, irgendwie verlegt haben. Aber das war genau die Bezeichnung die mein Vater für solche Findlinge benutzte. Strandgut. Vater weckte mich oft mitten in der Nacht mit der Bitte ein Mündel in Not irgendwo abzuholen und ins Heim zurück zu bringen. Der Fritzli war so ein Kandidat. Im Bahnhofbuffet, ein Restaurant das bis nach dem letzten Zug geöffnet hatte, sass der Fritzli also an besagtem Abend beim Bier. Mit der Einfahrt des letzten Zuges klingelte bei uns zu Hause das Telefon. Der Wirt bestellte meinem Vater der Gestrauchelten abzuholen, da dieser offensichtlich Mühe mit dem Gleichgewicht bekundete. So fuhren wir beide in meinem Simca Ralley, mein Stolz damals, vorne zwei Schalensitze, zum Bahnhofrestaurant, um den Fritzli auszulösen. Wortlos versuchten wir beide in der Kälte das Kommenden zu erkennen und zogen an unserer Abhängigkeit, er an der Tabakpfeife, ich an einer Zigarette. Eine Komplikation war, dass der Fritzli ausser meinem Vater niemand hatte. Es gab zwar entfernte Verwandte im Dorf, aber die wollten nichts von ihm wissen. Geld hatte er auch keines, die Gemeinde kümmerte sich um die Heimkosten, die Eskapaden im Bahnhofbuffet nicht inbegriffen. Nun, dem Fritzli fehlte auch noch eine andere Eigenschaft, er konnte mit Alkohol nicht umgehen. Erst lustig, dann traurig und auch aggressiv, so etwa die Auswirkung des übermässigen Bierkonsums. Der Wirt sagte ihm jeweils nach dem letzten Zug, dass jetzt der Vormund komme und ihn abholen werde, was ihn zum Weinen brachte und so trafen wir ihn immer, gebrochen auf dem Stuhl am runden Tisch. Wir bezahlten die Zeche und forderten ihn auf zusammenzupacken. Aber es gefiel dem Fritzli ausgezeichnet im Buffet und ins Heim zurück gehe er sowieso nicht. Irgendwie bugsierten wir ihn aus dem Restaurant ins Auto, wo er drei Sachen auf einmal machte. Weinen, Kotzen und Urinieren. Ich öffnete die Fenster und fischte eine Zigarette aus der Box, während Vater die Pfeife neu stopfte, dabei beruhigend dem Fritzli zusprach. Im Heim fanden wir jeweils alle Türen verriegelt und der Delinquent verweigerte das Aussteigen sowieso. Gemeinsam klopften wir dann den Heimleiter aus dem Bett, der gleich sein Lästermaul auspackte, um den immer wieder ausreissenden Fritzli zu verfluchen, was meinen Vater veranlasste entschuldigend als Advokat für den stinkenden Fritzli aufzutreten. Er sei halt ein Quartalsäufer und hätte sonst nichts in seinem Leben, da muss man mal ein Auge zudrücken. Dieses Argument weckte den Heimleiter endgültig auf. Ein schöner Vormund sei er, der solche Sachen erzähle. Mein Vater war eben, in Frieden möge er ruhen, ein sozial denkender Mensch.
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